Der offene Brief, initiiert von Cornelia von Ilsemann und Siegfried Arnz (Mitglieder der DeGeDe) nach Diskussionen des Entwicklungsnetzwerks für „Schulen in kritischer Lage“ der Robert-Bosch-Stiftung, wurde am Montag, 20. April an die KMK-Präsidentin übergeben.
“ Der Appell hat das Ziel, das Problem der zunehmenden Bildungsungerechtigkeit durch die Corona Krise etwas abzumildern. Dieses Thema treibt uns ja alle um und es findet in der Presse inzwischen auch eine engagierte Resonanz.
Im Kern geht es darum, vorrangig denjenigen Schüler*innen den Schulbesuch zu ermöglichen, die von den Lernangeboten der letzten Wochen nicht erreicht wurden. Das sind vor allem solche aus sozial benachteiligten Familien, aber nicht nur. Sie alle sollen rasch wieder in den Schulen lernen können, beraten von den ihnen vertrauten Lehrkräften. Juristisch könnte man das als eine „erweiterte Notbetreuung“ interpretieren.
Der Brief ist von renommierten Wissenschaftlerinnen, erfahrenen Expert*innen und engagierten Preisträgerschulen des Deutschen Schulpreises gemeinsam unterschrieben worden. Es ist sehr erfreulich, dass es gelungen ist, eine breite Heterogenität bei den Unterzeichner*innen herzustellen: Bei den Wissenschaftlern gibt es ein recht ausgewogenes Verhältnis zwischen Frauen und Männern aus jeweils unterschiedlichen Altersgruppen . Manche von ihnen arbeiten eher empirisch, andere mit qualitativer Forschung an Schulentwicklungsfragen, – alle aber haben bereits zu Fragen der Bildungsgerechtigkeit geforscht. Für die Auswahl der Preisträgerschulen gilt Ähnliches: sie stammen in der Regel aus unterschiedlichen Bundesländern und verschiedenen Jahrgängen des Schulpreises. „ Siegfried Arnz
Offener Brief an die KMK
20. April 2020
Die Coronakrise ist für alle Schulen und besonders für Eltern und Schüler*innen eine große Herausforderung. Viele haben sie bis jetzt mit hohem Engagement, kreativen Lösungen und viel gutem Willen bewältigen können. Das gilt allerdings nicht für alle: Besonders schwerwiegend wirkt sich die Krise für Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Lebensverhältnissen aus. Von Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen wird öffentlich die begründete Sorge geäußert, dass diese Schüler*innen „abgehängt“ werden. Es fehlen vielfach nicht nur die erforderlichen digitalen Geräte und der Internetzugang. Vor allem sind die Möglichkeiten der familiären Unterstützung eingeschränkt, denn nicht alle Eltern beherrschen das in Schule geforderte Deutsch und sind vertraut mit den Bildungsinhalten. Seit Wochen fehlen nicht nur die schulischen Lerngelegenheiten, sondern auch die alltägliche deutsche Sprachpraxis. Mit jedem Tag Abstand zur Schule wächst in ihrem Lernstand die Differenz zu denjenigen, die Tag für Tag an den von der Schule vorbereiteten Lernaufgaben arbeiteten, dabei technisch, emotional und fachlich unterstützt von ihren Eltern.
Uns ist bewusst, dass es viele gute Gegenbeispiele gibt: Schulen, die den Kindern die Lernmaterialien vor die Tür bringen, Lehrkräfte, die die Jugendlichen am Handy persönlich beraten etc. Das strukturelle Problem wird dadurch gemildert, aber nicht gelöst.
Deshalb appellieren wir an Sie als verantwortliche Ministerinnen und Minister: Finden Sie eine Lösung, mit der diese Kinder und Jugendlichen bei einer schrittweisen Öffnung der Schulen bevorzugt berücksichtigt werden. Da ohnehin nicht alle Schüler*innen gleichzeitig in die Schule zurückkehren können, sollte zunächst vor allem denjenigen Kindern und Jugendlichen der Schulbesuch ermöglicht werden, die eine besondere Unterstützung benötigen. Sie sollten die Chance bekommen, auch vor der offiziellen Öffnung für alle Schüler*innen in den Räumen der Schule beim Lernen von Lehrkräften betreut zu werden. Eine solche Maßnahme wäre rechtlich eine „erweiterte Notfallbetreuung“, die auf der Freiwilligkeit der Teilnahme beruhen müsste.
Die Pädagog*innen wissen vermutlich recht genau, wen sie in den letzten Wochen mit ihren Lernangeboten nicht oder kaum erreichen konnten, und auch viele Eltern aus benachteiligten Verhältnissen können dies einschätzen. Beratungseinrichtungen und die Jugendhilfe können unterstützen. Mit unserem Vorschlag wären an vielen Schulen kleinere Lerngruppen gesichert. Damit ließen sich die Abstandsregeln einhalten. In manchen Schulen und Stadtteilen wären vermutlich auch ganze Klassen betroffen. Hier wären zeitlich versetzter Unterricht und/oder Unterricht an außerschulischen Lernorten denkbar. Dabei müssten die Verantwortlichen vor Ort mit ihrer Kompetenz und Erfahrung einbezogen werden. Sie kennen die Bedarfe und Möglichkeiten an den Schulen am besten. Das gilt insbesondere auch für Möglichkeiten der Ganztagsbetreuung. Allerdings brauchen sie dazu unterstützende Rahmenbedingungen.
Manche der Eltern, deren Kinder noch länger nicht die Schule besuchen dürfen, werden eine solche Regelung möglicherweise als Benachteiligung empfinden. Die Maßnahme sollte deshalb für den Zeitraum gelten, bis alle Kinder und Jugendlichen die Schulen wieder besuchen können. Sie bedarf darüber hinaus einer überzeugenden
Kommunikation: Es geht um mehr Bildungsgerechtigkeit. Wir gehen davon aus, dass eine solche Entscheidung bei vielen Menschen in Deutschland auf hohe Akzeptanz stoßen wird.
Unabhängig von dieser kurzfristigen Maßnahme bedürfen die Kinder und Jugendlichen, die durch ihre gesellschaftlich bedingten Lebensverhältnisse benachteiligt werden, auch mittelfristig weiterhin gezielter Unterstützung und zusätzlicher Lerngelegenheiten. Dafür sollte kurzfristig „nach Corona“ auf positive Erfahrungen und kreative Lösungen einzelner Schulen und der Unterstützungssysteme während der letzten Wochen zurückgegriffen werden.
Unterzeichner*innen des offenen Brief an die KMK 20. April 2020
Prof. Dr. Isabell van Ackeren, Universität Duisburg-Essen
Frank Ahrens , Schulleiter der Jenaplanschule, Jena, Schulpreis 2016
Siegfried Arnz, Leitender Oberschulrat /ehemaliger Abteilungsleiter Berlin i.R., Entwicklungsnetzwerk für „Schulen in kritischer Lage“ der Robert Bosch Stiftung
Prof. Dr. Jürgen Baumert
Prof. Dr. Gabriele Bellenberg, Lehrstuhl für Schulforschung und Schulpädagogik, Ruhr Universität Bochum
Prof. Dr. Silvia-Iris Beutel, TU Dortmund und Mitglied im Programmteam der Deutschen Schulakademie
Prof. Dr. Nina Bremm, Professur für Schulentwicklung, Pädagogische Hochschule Zürich
Heinrich Brinker, Schulleiter der Grundschule auf dem Süsteresch, Schulpreis 2016
Helmut Dreher, Schulleiter am Evangelischen Firstwald- Gymnasium, Mössingen, Schulpreis im Jahr 2010
Angela Dombrowski, Schulleiterin der Sophie-Scholl-Schule Bad Hindelang/Oberjoch, Deutscher Schulpreis 2010
Thilo Engelhardt, Schulleiter Waldparkschule Heidelberg, Schulpreis 2017
Tim Hagener, Schulleiter der Max Brauer Schule, Hamburg, Schulpreis 2006; Mitglied im Sprecherteam des Schulverbunds ‚Blick über den Zaun‘
Prof. Dr. Heinz Günter Holtappels, Institut für Schulentwicklungsforschung, TU Dortmund
Dr. Petra Hoppe, Schulleiterin der IGS List, Hannover, Schulpreis im Jahr 2018 Prof.i.R. Dr. Marianne Horstkemper, Universität Potsdam
Prof. Dr. Stephan Gerhard Huber, Leiter des Schul-Barometers zur aktuellen Schulsituation (www.Schulbarometer.net) und des Instituts für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie IBB der PH Zug
Cornelia von Ilsemann, ehemalige Vorsitzende des Schulausschusses der KMK, Entwicklungsnetzwerk für „Schulen in kritischer Lage“ der Robert Bosch Stiftung
Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu, Interkulturelle Bildung, Universität Bremen
Univ.-Prof. Dr. Esther Dominique Klein, Professur für Schulentwicklungsforschung und Leadership, Universität Innsbruck
Prof. Dr. Dagmar Killus, Professorin für Schulpädagogik an der Universität Hamburg
Prof. i.R. Dr. Klaus Klemm, Fachbereich Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen
Prof. i.R. Dr. Eckhard Klieme, DIPF|Leibniz Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Frankfurt und Berlin
Prof. Dr. Olaf Köller, Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz- Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN)
Prof. Dr. Kai Maaz , Geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, Frankfurt und Berlin
Volker Masuhr, Schulleiter Waldschule Flensburg, Schulpreis 2015 Andrea Moser, Grundschule Süd, Landau, Schulpreis 2010
Prof. Dr. Anand Pant, Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Miriam Pech, Schulleiterin der Heinz Brandt Schule, Berlin, Schulpreis im Jahr 2011 Martin Plant, Schulleiter Jenaplanschule Rostock, Schulpreis im Jahr 2015
Andrea Rahm, im Schulleitungsteam der Sophie-Scholl-Schule Bad Hindelang/Oberjoch und Mitglied im Programmteam der Deutschen Schulakademie
Sebastian Raphael, Schulleiter der Montessori-Oberschule Potsdam, Schulpreis im Jahr 2007
Prof. Dr. Anne Sliwka, Institut für Bildungswissenschaft, Universität Heidelberg, Mitglied im Programmteam der Deutschen SchulakademieGunda Ruge-Strudthoff, Schulleiterin der Schule Borchshöhe, Bremen, Schulpreis im Jahr 2017
Prof. i.R. Dr. Klaus Jürgen Tillmann, Universität Bielefeld.
Hans Martin Utz, Schulleiter der Gesamtschule Ost, Bremen, Schulpreis 2018
Michael Voges, ehemaliger Staatsrat in der Behörde für Schule und Berufsbildung, Hamburg
Sybille Volkholz, Vorsitzende des Fachbeirats Inklusion Berlin und ehemalige Schulsenatorin in Berlin
Frank Wagner, Schulleiter der Gebrüder-Grimm-Schule, Hamm, Schulpreis 2019
Wilhelm Windmann, Schulleiter der Berufsbildenden Schulen Osterholz-Scharmbeck, Schulpreisnominierung 2015 und 2017
Offener Brief
zum Download (PDF).
Stand: 20.04.2020
Kontakt
Name: Siegfried Arnz
Funktion: Siegfried Arnz, Leitender Oberschulrat /ehemaliger Abteilungsleiter Berlin i.R.,
Entwicklungsnetzwerk für „Schulen in kritischer Lage“ der Robert Bosch Stiftung