Rebekka Bendig und Julian Knop von der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik zeigen Wege auf, wie eine demokratiepädagogische Schulentwicklung in Pandemiezeiten umgesetzt werden kann. Dabei kommen Sie auch zu der Erkenntnis: Schule muss nicht alles allein machen.
Lebensrealitäten in Zeiten der Pandemie
Elisa mag nicht mehr. Schon wieder ist die Internetverbindung abgebrochen und sie ist aus der Konferenz geflogen. Schlimm genug, dass aus dem alten Laptop nur blecherne Geräusche rasseln. Heute wäre eigentlich ihr Tag gewesen. Tagelang hatte sie ihre Präsentation vorbereitet, geübt, bis sie jedes Wort auswendig konnte. Und jetzt schon zum dritten Mal der Ausfall des WLANS. Wie soll man da noch motiviert bleiben? Und überhaupt: Irgendwie ist es ein bisschen so, als ob ihre Lebensenergie immer weniger wird. Sich auf dem Schulhof mit den anderen treffen, Umarmung, die Köpfe zusammenstecken, sich knuffen, kichern. Alles ist irgendwie gedämpft, wie unter einer Decke.
Enes geht es ganz anders. Er vermisst schon auch Ausgehen und gemeinsam was unternehmen. Aber er hat seine Fussballkumpel, die sich nach wie vor im Park treffen. Enes hat das Gefühl, ziemlich viel Eigenständigkeit in den letzten Monaten gelernt zu haben. Mit seinem schnellen Rechner lassen sich gut all die Youtube-Tutorials schauen – neben Netflix, das so auch viel mehr Spaß macht – und in seinem eigenen Zimmer stört ihn sowieso keiner. Er genießt die viele selbstbestimmte Zeit – endlich mal raus aus dem Hamsterrad! Mittlerweile haben die meisten Lehrkräfte das Online-Unterrichten auch ganz gut drauf und es gibt regelmäßige Befragungen, was sich noch verbessern lässt.
Die Pandemie trifft alle gleich? Mitnichten, wie diese beiden Beispiele zeigen. Waren Lehrkräfte schon immer gefragt, sich an den Lebensrealitäten von Kindern und Jugendlichen zu orientieren, so trifft dies nun besonders zu. Und nicht nur soziale Realitäten unterscheiden sich, auch der individuelle Umgang mit den Gegebenheiten: Während die eine Schülerin gar keinen Feierabend mehr kennt und um 23.59 Uhr die letzte Aufgabe in Teams abgibt, schafft eine andere es gut, sich Pausen und Arbeiten einzuteilen, die Schulzeit zu beschränken und eine Aufgabe auch dann abzugeben, wenn sie noch nicht perfekt erscheint.
Wenn junge Menschen, wie in den jüngsten JuCo-Studien (Andresen u.a. 2020a, 2020b) deutlich wurde, sich nicht mehr als Kinder und Jugendliche, sondern bestenfalls noch als Schüler und Schülerinnen wahrgenommen fühlen, Gefühle von Vereinsamung und Isolation zunehmen, sollten in der Demokratie alle Alarmglocken schrillen. Dieses Gefühl des nicht-Wahrgenommen Werdens – das wissen wir aus den Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart – wird allzu gern von demokratiefeindlichen Gruppierungen genutzt. Dem kann und muss schnellstmöglich mit echter Partizipation – in pädagogischen Einrichtungen ebenso wie im öffentlich-politischen Raum begegnet werde. Dazu braucht es Möglichkeiten der Artikulation und Wege, Handlungsfähigkeit und Selbstwirksamkeitserfahrungen zu erzeugen. Dies gilt nicht nur für Jugendliche, sondern ebenso für Kinder. Die Initiative für Große Kinder macht darauf aufmerksam, dass die Belange der 6-12 jährigen häufig übersehen werden (vgl.: Enderlein/Krappmann 2013). Dabei hat diese Altersgruppe ebenso wie die Jugendlichen viel beizutragen, wenn es um die Beschreibung von Kinderrechtsverletzungen und Lösungsideen geht.
Dazu kommt: Die Lebensrealitäten haben sich für alle verändert. Auch Lehrkräfte kommen mehr oder weniger gut mit Online-Unterricht und geteilten Klassen zurecht. Die einen haben Spaß daran, sich in Ruhe in die neuen Tools „einzufuchsen“, während andere neben der Unterrichtsvorbereitung nun ihre eigenen Kinder zu Hause versorgen müssen und nicht wissen, wo ihnen der Kopf steht.
Demokratiepädagogik- wo setzen wir aktuell an?
Welche Rolle spielt die Demokratiepädagogik in der „neuen“ digitalen Welt? „Demokratie muss gelernt werden, um gelebt werden zu können und sie muss gelebt werden, um gelernt werden zu können (Himmelmann 2007: 8). Ausgehend von dem Himmelmannschen dreigeteilten Demokratiebegriff, der Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform beschreibt (vgl. Himmelmann 2001), sind alle Ebenen relevant: Es geht um das Persönliche ebenso wie das Miteinander in einer pädagogischen Einrichtung und den politischen Raum. Wo werden Kinder und Jugendliche auf den unterschiedlichen Ebenen „abgeholt“? Hierzu einige Fragen, die mit jungen Menschen bearbeitet werden können:
- Die Ebene des persönlichen Erlebens: Welche Erfahrungen bringen sie gerade mit in die Online-Konferenz und wie geht es ihnen eigentlich? Wie steht es um ihre Menschenrechte, festgeschrieben in der UN-Kinderrechtskonvention: Das Recht auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, auf Nichtdiskriminierung, auf Freizeit und Erholung, auf Gesundheit, auf ein gewaltfreies Aufwachsen?
- Fragen, die sich auf der gesellschaftlichen Ebene stellen: Wie gestaltet sich das Miteinander in einer Zeit, in der Freundschaften über der Distanz-Nähe-Frage zerbrechen, Chancenungleichheit unter dem vielzitierten „Brennglas Corona“ mehr Verlierer denn je produziert? Welche Möglichkeiten von Unterstützung und Solidarität tun sich hier aber auch auf? Welche Strategien helfen gegen Isolation und Hilflosigkeit, die anfällig machen können für Verschwörungstheorien und Parallelwelten? Selten konnte eine Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien – wie entstehen sie, was und wer steht dahinter – lebensnaher gestaltet werden. Die Einschränkung individueller Freiheitsrechte zugunsten von Gesundheit und Gemeinwohl ist DIE Vorlage für Dilemma-Diskussionen und eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung mit Grundfragen der Demokratie. Was bedeutet Toleranz in diesem Zusammenhang?
- Lebensweltnah schließen sich Fragen an, die auf der dritten Ebene relevant sind: Wie können Themen und Anliegen von Kindern und Jugendlichen in den öffentlichen Raum getragen werden? Wie bekommen junge Menschen eine Stimme? Wissenschaft ist derzeit so präsent wie selten zuvor in den Medien – Welche Chancen stecken darin für die Zukunft, z.B. im Hinblick auf den Klimawandel? Und welche Möglichkeiten der politischen Einmischung bieten sich, wenn Fridays For Future nicht mehr auf die Straße gehen kann?
Ganz praktisch: Kommen Sie mal mit!
Kommen Sie einmal mit in unsere Beispielschule: Kerem besucht die achte Klasse der Audre-Lorde-Schule. Für den Präsenzunterricht ist die Klasse weiterhin geschlossen – aber sie schafft es, Kindern- und Jugendlichen ein gutes Lernangebot zu gestalten. Wie schafft sie das?
Einmal in der Woche versammelt sich die Klasse digital zum Klassenrat. Dafür erprobt sie zurzeit unterschiedliche Methoden, um den besten Weg für sich herauszufinden. Letzte Woche haben sie den Klassenrat per Textnachrichten in einem Etherpad ausprobiert, heute sollen Sprachnachrichten versendet werden, nächste Woche schauen sie, ob ihre Videoplattform einen Klassenrat stabil hosten kann, oder die Gruppe eventuell geteilt werden muss. Im Anschluss wird ausgewertet. Themen im Klassenrat sind zurzeit vor allem Leistungsdruck und Schulstress auf Grund der Schließungen sowie Diskussionen über gesellschaftliche Freiheiten in Pandemiezeiten. Über das Kinder- und Jugendbeteiligungsbüro in ihrem Stadtteil beteiligen sie sich am Jugendforum und erreichen in einem Gespräch mit Stadträtin und Bürgermeister konkrete Verbesserungen.
Sharing is caring – Lehrkräfte haben einen eigenen Austauschraum
Die Lehrkräfte in der Schule haben einen eigenen Austauschraum: sie stellen sich vorbereitete Unterrichtsmaterialien gegenseitig zur Verfügung. In einer wöchentlichen kollegialen Beratung sprechen sie Herausforderungen an. Sharing is caring. Die Arbeitsmaterialien sind mit klaren, verständlichen, strukturierten Aufgaben in verschiedenen Schwierigkeitsstufen versehen. Unterstützend zu Schulbüchern wird auch auf Videos, Podcasts und freie Lernangebote hingewiesen.
Jede Lehrkraft hat einmal in der Woche ein kurzes Telefonat mit einem Schüler. Hier wird über Lernziele und Lernstände, aber auch das eigene Wohlbefinden gesprochen. Auffälligkeiten werden mit anderen Lehrkräften besprochen.
Lernen außer Haus, Buddy-Verbände, Arbeitsgemeinschaften und freiwillige Angebote
Regelmäßig müssen Kinder- und Jugendliche für das Erledigen der eigenen Aufgaben das Haus verlassen: Flächenmessung im Park in Mathe, Erstellung von Videoclips zum Sportunterricht, Beschreibung eines öffentlichen Ortes im Fach Deutsch.
Die Klasse hat mit Unterstützung feste Buddy-Verbände fächerübergreifend geschlossen. In gleichbleibenden Gruppen zu dritt sind sie gemeinsam füreinander da.
Langsam starten auch wieder Arbeitsgemeinschaften, freiwillige Angebote, an der Schule. Die Schulzeitung trifft sich im Sprachchat und mit einem PAD, die Technik-AG probiert das gemeinsame Programmieren an Computerspielen und die Schulgarten-AG hat zu einer Pflanzensuch-Rallye aufgerufen.
Termine mit Lehrkräften werden genutzt, um Wissen aufzubereiten, zu vertiefen und Fragen zu beantworten. Input wird durch aufgezeichnete Vorträge, Videos und Texte zur Verfügung gestellt – Stichwort: Flipped Classroom.
Die Schule vergibt deutlich weniger Hausaufgaben als vorher – denn allen ist bewusst, dass das Stresslevel erhöht ist. Dafür werden freiwillige Lernhinweise gegeben.
Die Beteiligungsgremien thematisieren in ihren Onlinesitzungen derweil den längerfristigen Ausblick. Sie äußern Sorgen, dass auf die Zeit des fehlenden Präsenzunterrichts nun mit zusätzlichen Nachhilfepaketen reagiert werden soll. Gemeinsam überlegen sie, wie ohne diese Mehrbelastung und unter Anerkennung der unterschiedlichen Hintergründe für junge Menschen weiterhin gute Startvoraussetzungen durch Bildung gegeben sein können.
Netzwerke sind nicht nur in Zeiten der Pandemie das A und O
Bildungsinstitutionen der schulischen und außerschulischen Demokratiebildung haben sich im „Bündnis Bildung für eine demokratische Gesellschaft“ auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik zusammengeschlossen und tauschen sich seit Beginn der Pandemie über unterschiedliche Wege und Möglichkeiten der Praxis aus. Dabei bereichern sich schulische und außerschulische Akteure gegenseitig. „Ich habe heute viele Anregungen mitgenommen und gehe wieder ganz motiviert in meinen Alltag“. Das ist die vielleicht wichtigste Erfahrung: (Nicht nur) in Zeiten der Pandemie sind Netzwerke der gegenseitigen Unterstützung das A und O. Und wenn sie über den eigenen Organisationstellerrand hinaus reichen, können sie neue Welten eröffnen und wieder Mut machen.
Die zweite Erkenntnis: Schule muss nicht alles allein machen. Da sind jede Menge mögliche Kooperationspartnerinnen und -partner – und sie sind online häufig viel unkomplizierter in den Klassenraum zuzuschalten als mit langem Anfahrtsweg. Das ist gerade für den ländlichen Raum interessant. Junge Menschen vom Bildungswerk für Schülervertretung und Schülerbeteiligung (SV-Bildungswerk) oder Mehr als Lernen e.V. regen Schülervertretungen und Soziales Lernen an, partizipatives demokratisches Miteinander kann auch online gemeinsam eingeübt werden. Das Konflikthaus bietet Unterstützung beim Online-Klassenrat an, das Entwicklungspolitisches Bildungs- und Informationszentrum- EPiZ stellt Materialien, Filme und Workshops zum Thema Globales Lernen zur Verfügung. “ Gesicht Zeigen!“ unterstützt beim Umgang mit Hatespeech, rechter Hetze und einem freudvollen Entwickeln von Zivilcourage, ebenso wie KIgA, die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, der Verein für Demokratie und Vielfalt in schulischer und beruflicher Bildung e.V. und viele weitere, die sich in wenigen Sätzen auf der Bündniswebsite vorstellen. Kinder- und Jugendbeteiligungsbüros, Kinder- und Jugendparlamente oder Kinderbeauftragte vor Ort vermitteln zwischen kommunaler Politik und Planung.
Ein letzter Gedanke zur Ruf nach digitalen Lösungen – den wir grundsätzlich selbstverständlich unterstützen. Wenn allerdings digitale „Lösung“ bedeutet, dass Kinder und Jugendliche mit toller technischer Ausstattung und tollen anregenden Lern- und Meetingtools viele Stunden täglich vor dem Rechner sitzen, dann ist etwas gründlich schiefgegangen. Die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen wären unübersehbar. Nicht zuletzt deshalb brauchen wir verantwortungsvoll handelnde Erwachsene, die Gesundheits- und Selbstfürsorge ernst nehmen. Lehrkräfte wie auch Kinder und Jugendliche brauchen Erholung und Bewegung, eine Begrenzung von Bildschirmzeit und nicht zuletzt Begegnung mit Menschen, die man riechen und anfassen kann.
Rebekka Bendig
Prof. Dr. Rebekka Bendig ist Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule für Angewandte Pädagogik Berlin und Mitglied des Landesvorstandes Berlin-Brandenburg der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik, DeGeDe e.V.. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche sich dann motiviert einbringen, wenn es um Themen geht, die sie wirklich interessieren. Das müssen aber nicht immer die Belange der Erwachsenen sein.
Mehr Informationen auf: http://rebekka-bendig.de/
Julian Knop
Julian Knop ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik und berät mit seinem Kollektiv stuhlkreis_revolte zum Thema digitale Lerngestaltung, Beteiligungs- und Vielfaltspädagogik.
Mehr Informationen auf www.mitvielfalt.de und www.stuhlkreisrevolte.de.
Ich stimme zu, dass es während der Pandemie ein großer Vorteil beim Lernen war, dass man alle Youtube-Tutorials mit einem schnellen Rechner abrufen konnte. Mein Neffe hat sich gerade mithilfe von Youtube-Videos für seine Abiturprüfungen vorbereitet. Er hat aber ab und zu Online-Nachhilfeunterricht als Ergänzung besucht.