Corona-Krise als Herausforderung für Demokratie- und Menschenrechte
Einblicke in einen die Ambiguitstoleranz stärkenden Bildungsansatz des Hessischen DeGeDe-Projekts „Zusammenleben neu gestalten
von Christa Kaletsch
Das Anhalten der Einschränkungen und Probleme in der Auseinandersetzung mit der Pandemie wirft viele Fragen auf und kann zur Erschütterung des demokratischen Selbstverständnisses beitragen. Verunsicherungen über die weiterhin bestehende Gefahr durch das Virus, Frust und Enttäuschung über die wiederkehrenden Einschränkungen des Alltagslebens suchen sich zuweilen destruktive Wege oder werden in verschwörungsideologischen Erzählungen gebunden. Diese sind an sich nichts Neues. Es bieten sich aber derzeit vielfältige Gelegenheiten antisemitische, die demokratisch-verfasste, plurale Gesellschaft in Frage stellende Diskurse zu entfalten. Rechtsextremismus-Expert*innen weisen auf das „Mobilisierungspotential“ im Zuge der Corona-Krise hin. Umso wichtiger ist es in Schule und anderen pädagogischen Zusammenhängen, Räume zu eröffnen, die Kinder, Jugendliche und Heranwachsende dazu einladen, die gesellschaftlichen Entwicklungen und Entscheidungen konstruktiv-kritisch begleiten zu können.
„The best interest of the child“ – oder die dauerhafte Verletzung des wesentlichen Grundprinzips der UN-Kinderrechtskonvention
Gerade für junge Erwachsene, Jugendliche und Kinder stellen sich besondere Herausforderungen. Sie waren und sind weiterhin massiv von den zur Eindämmung der Pandemie getroffenen Maßnahmen betroffen. Ihre Bedürfnisse stehen jedoch selten im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Sie wurden und werden noch immer viel zu wenig an der Entscheidungsfindung beteiligt – obwohl ihre Perspektive nach der in vielen Landesverfassungen und der EU-Grundrechtecharta verankerten Kinderrechtskonvention vorrangig zu betrachten ist[1]. Aus einer demokratiepädagogischen Perspektive muss dies bedenklich stimmen. Studien zum Erleben von Jugendlichen und jungen Erwachsenen verdeutlichen darüber hinaus die Gefahr des Verlusts eines demokratischen (Selbst)Bewusstsein von Kindern und Jugendlichen: Sie habe sich „noch nie so ohnmächtig gefühlt“, berichtet ein Teilnehmer*in einer gemeinsam von der Stiftung Universität Hildesheim und der Universität in Frankfurt veranlassten bundesweiten Studie zu „Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen“. Viele Teilnehmende beklagten, sich auf ihre Rolle als Schüler*innen reduziert zu fühlen, die vor allem Stoff lernen sollten. Ihre Expertise und Lösungskompetenz sei nicht wahrgenommen und entsprechend abgerufen worden. Ihre Sorgen und Nöte wurden vielfach nicht gesehen.[2] Neben der Entwicklung persönlicher Zukunftsängste nimmt auch die Sorge um globale gesellschaftliche Folgen einen erheblichen Anteil des Erlebens ein. „Ich bin froh, wenn es endlich vorbei ist – wenn die Menschen wieder „normal“ ansprechbar sind, unterschiedliche Meinungen keine Beziehungen mehr zerstören und man sich wieder sicher sein kann, wie man sich verhalten soll. In Zeiten, in denen Menschen mehr denn je füreinander da sein sollten, wird die Gesellschaft noch weiter gespalten. Unsicherheit und Angst bestimmen unser Leben und Menschen werden nach ihrer Wichtigkeit (Systemrelevanz) kategorisiert – der Wert eines Menschen ist jedoch nicht durch eine Beruf(ung) bestimmbar. Ich bin gespannt, wie unsere Gesellschaft sich „nach Corona“ verhält und entwickelt hat. Ich stehe dem mit Sorge gegenüber“, äußert beispielsweise eine Teinehmer*in.[3]
Dem Verlust des (Selbst-) Vertrauens in die Demokratie begegnen
Die Studien verdeutlichen die Notwendigkeit, die Schüler*innen mit subjektorientierten Angeboten zu adressieren, in denen sie sich als Mensch ganzheitlich wahr- und ernstgenommen fühlen können. Mit Bezug auf Grund-, Kinder- und Menschenrechte – die in Deutschland auch während der corona-bedingten Einschränkungen „vollumfänglich weiter gelten“ [4] – lassen sich Gelegenheitsräume öffnen, die Kinder und Jugendlichen nach ihren Erfahrungen, Wünschen und Bedürfnissen zu fragen und ihnen damit ein stückweit das Vertrauen in die Wertschätzung der zentralen Werte einer demokratischen Gesellschaft zurückzugeben. Nicht nur die Studien, auch die Rückmeldungen aus Schulen, die wir im Rahmen unseres Projekts begleiten konnten, verdeutlichen, warum es wichtig und notwendig ist, über die Stoffvermittlung hinausgehende methodische Zugänge zu wählen, die den Schüler*innen ermöglichen „Selbstvertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit “ (wieder) zu erlangen bzw. sich als handlungsfähig zu erleben. „Man muss halt jetzt einfach machen, was einem gesagt wird“, meldete etwa eine Schüler*in einer neunten Hauptschulklasse nach den ersten zehn Wochen Lockdown auf die Frage zurück, welche Lehren sie aus der Pandemie gezogen habe.
Reflexionsräume, Impulse und methodische Anregungen anbieten
Wir haben im Rahmen unserer Arbeit mit den von uns ab April 2020 angebotenen und kontinuierlich weiterentwickelten Bildungsmaterialien immer wieder die Erfahrung gemacht, wie wichtig die Impulse und Einladungen zur Auseinandersetzung mit den Entwicklungen sind und dass sie dazu ermuntern können, einen Zustand des bloßen Aushaltens und Abwartens zu überwinden. Unsere Angebote führten zu Perspektiverweiterungen, insbesondere dahingehend nachvollziehen zu können, wie schwierig und herausfordernd die zu treffenden Entscheidungen sind. Den Teilnehmenden konnte sich die Komplexität der Sachverhalte vermitteln, aber auch eine Grundlage eröffnen, auf der die Entscheidungsprozesse (mit)verfolgt und konstruktiv kritisch begleitet werden können. Ein dynamisches, die Universalität der Menschenrechte wiederkehrend bekräftigendes Demokratieverständnis kann dazu beitragen, Menschen trotz fortbestehender Verunsicherungen zu stärken, ihr Vertrauen in ihre Handlungsfähigkeit (Selbstwirksamkeit) zu erhalten und Räume für Empathie und ein solidarisches Miteinander zu eröffnen. Gerade Heranwachsende sind hierfür grundsätzlich aufgeschlossen, wenn man sie entsprechend adressiert und zum Mitdenken einlädt.
„Eure Meinung zählt“ lautete daher auch das Motto, das sich durch eine Vielzahl von methodischen Anregungen zog. Offene Leitfragen, die Kinder, Jugendliche und Heranwachsende wiederkehrend dazu einladen, ihre Erfahrungen in Auseinandersetzung mit der Pandemie reflektieren und sich dabei vor allem in ihrer Expertise und Handlungskompetenz erleben zu können, spielen dabei eine ebenso wichtige Rolle, wie die Beschäftigung mit verfassungsrechtlichen Dilemmata, die in lebensnahen Fallgeschichten aufgegriffen und in Dilemma-Dialogen bearbeitet werden können. Eine grund-, kinder- und menschenrechtsbasierte Analyse der Situationen, in der die miteinander kollidierenden Rechte erkannt, ihr Wesensgehalt erfasst und ihre jeweilige Bedeutung gewürdigt werden, unterstützt die Entscheidungsfindung. Dadurch lernen die Teilnehmenden den Unterschied zwischen einem moral- und einem rechtebasierten Denken kennen und erwerben Kenntnisse, die sie die getroffenen Entscheidungen kritisch würdigen lassen. Ideensprints zu weitergehenden Fallgeschichten laden die Teilnehmenden abschließend dazu ein, kreative Lösungsvarianten zu entwickeln und zivilgesellschaftliches Engagement kennen zu lernen.
„Eure Meinung zählt – Verfassungsrechtliche Expertisen erlangen und in Diskurse einbringen
Die gegenwärtige Situation des Lebens mit der fortbestehenden Gefahr durch das Corona-Virus wirft große menschen- und kinderrechtliche Dilemmata auf. Denn im Bemühen möglichst viele Menschen vor einer Infektion mit dem Virus zu schützen, werden andere für das Leben und die Gesundheit wichtige Kinder- und Menschenrechte eingeschränkt oder gar verletzt. Dabei können Fehlentscheidungen getroffen und auch revidiert werden. Dazu bedarf es Menschen, die mitdenken und sich ermutigt fühlen, sich konstruktiv-kritisch in Diskurse einzubringen oder diese auch anzustoßen. Eine zentrale Methode ist dabei das Verhältnismäßigkeitsbarometer. In diesem werden die Teilnehmenden eingeladen, konkrete Situationen zu bewerten und sich dabei Gedanken darüber zu machen, ob die getroffenen Maßnahmen geeignet sind, das Ziel – das tatsächlich nur darin bestehen kann, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen – zu erreichen, und ob die getroffenen Einschränkungen vertreterbar erscheinen[5]. Dabei kommt es (zunächst) auf das subjektive Empfinden der Teilnehmenden an. Die Teilnehmenden sind auf einer Skala von 0 bis 100 Prozent dazu eingeladen, einzuschätzen, wie verhältnismäßig sie das in der Situation beschriebene Vorgehen bewerten. Null Prozent bedeutet, es gibt große Bedenken und es gibt vieles, das dagegen spricht, 100 Prozent bedeutet ein vollständige Zustimmung und der gewählten Verfahrensvorschlag wird als zielgerichtet, geeignet und angemessen betrachtet. „Zwischentöne“ sind denkbar und erwünscht. Es ist wichtig, die Teilnahmenden dazu einzuladen, den gesamten Bewertungsraum von null bis 100 des Barometers zu nutzen. In dem die Moderation im Verlauf wiederkehrend das verfassungsrechtliche Verständnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung einbringt, wachsen die Teilnehmende in ein stärker rechtebasiertes Denken hinein. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, welche Grund-, Kinder- und Menschenrechte in der jeweiligen Situation berührt sind und ggfs. auch drohen verletzt zu werden, hilft den Teilnehmenden eine Spur zu spezifischen Kontexten, in denen die beschriebenen Maßnahmen eine Rolle spielen, aufzunehmen und dabei die unterschiedlichen Lebensumstände, in denen Menschen mit den Maßnahmen konfrontiert werden, in den Blick zu nehmen. Die Teilnehmenden melden häufig zurück, dass sie die Auseinandersetzung im Verhältnismäßigkeitsbarometer als perspektiverweiternd und sehr bereichert erlebt haben. Ihnen werden die Komplexität und auch die Schwierigkeiten eine für alle Menschen und in Würdigung ihrer jeweils sehr unterschiedlichen Lebensverhältnissen eine gerechte und faire Entscheidung zu treffen, deutlich. „Man merkt halt: es gibt nicht nur schwarz weiß“, fasste ein*e Teilnehmende*r ihren Eindruck zusammen. „Es ist gut, in Ruhe über die verschiedenen Aspekte nachdenken zu können, ohne sich dabei persönlich anzugreifen. Das habe ich als sehr entlastend erlebt, auch weil ich sowohl in beruflichen als auch privaten Zusammenhängen gerade ganz andere Erfahrungen mache“, bekannte ein*e andere*r, als Multiplikator*in in pädagogischen Zusammenhängen tätige*r Teilnehmende*r.
Selbstklärung ermöglichen
Die oben beschriebene Rückmeldung einer Workshopteilnehmer*in macht deutlich, wie wichtig es ist, Reflexionsräume für die in pädagogischen Kontexten Tätigen zu eröffnen. Die langanhaltende Auseinandersetzung mit der durch das Corona-Virus ausgelösten Pandemie ist für alle Menschen belastend. Es erscheint uns sehr wichtig, dass erwachsene Lernbegleitungen, sich Kindern und Jugendlichen in diesen irritierenden, zuweilen auch bedrohlich und verängstigend wirkenden Zeiten als verlässliche (Lern-) Begleitungen anbieten können. Dazu brauchen sie wiederum auch Räume, in denen sie ihre eigenen Verunsicherungen zulassen und sich aktiv mit ihrem Demokratieverständnis auseinandersetzen und ihr Wissen um Grund- und Menschenrechte aktualisieren können
Das vom Projekt Zusammenleben neu gestalten entwickelte Bildungsmaterial möchte insbesondere Pädagog*innen darin unterstützen, „die Corona-Krise als Herausforderung für Demokratie und Menschenrechtsbildung“ annehmen zu können und Kindern und Jugendlichen Angebote zu machen, sich mit ihrem Erleben, ihren Meinungen und Ideen wahr- und ernstgenommen zu fühlen, einen fundierten Bewertungsrahmen zu entwickeln und sich über die komplexen Zusammenhänge subjektorientiert informieren zu können.
Das Material ist abrufbar unter: https://staging2.degede.de/wp-content/uploads/2021/01/zng-broschuere-corona-demokratie-menschenrechte-bildungspaket.pdf
Dies ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung des im Forum Kriminalprävention 2/21 erschienen Aufsatzes „Demokratie- und Menschenrechtsbildung in der Corona-Krise. Einblicke in das Bildungsprogramm `Zusammenleben neu gestalten´“ von Christa Kaletsch
[1] Der Kindeswohlvorrang ist in Artikel 3 der UN-KRK formuliert.
[2] Vgl. Andresen, Sabine et al. (2020): Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. Erste Ergebnisse der bundesweiten Studie JuCo. Online abrufbar unter: https://hildok.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/1078
[3] Vgl. Andresen, Sabine et. Al. 2020: Die Corona-pandemie hat mir wertvolle Zeit genommen. Jugendalltag 2020 file:///C:/Users/User/AppData/Local/Temp/Heyer_JuCo_2.pdf
[4] Vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte (März 2020): Corona-Krise: Menschenrechte müssen das politische Handeln leiten. Online abrufbar unter: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/corona-krise-menschenrechte-muessen-das-politische-handeln-leiten
[5] Exemplarisch seien hier drei Situationsbeschreibungen benannt: Ein achtjähriges Kind, das von seiner Familie isoliert in einem Zimmer bleiben muss, weil es Kontakt zu einer positiv auf Corona getesteten Person hatte; In Kirchen wird das Singen verboten, oder: Krankenhaus-Patient*innen, die während ihres Krankenhausaufenthalts keine Besuche empfangen dürfen