Im Zusammenhang mit der Mitgliederversammlung 2018 wurde zum Streitgespräch: „Pro und Contra Neutralitätsgesetz“ am Montag, den 16.April um 18.00 Uhr mit anschließender Mitgliederversammlung um 19.30 Uhr eingeladen. Die Veranstaltung fand eine reges Interesse bei den Anwesenden: Es diskutieren miteinander und mit dem Publikum: Mabura Oba, Bildungsreferentin, Initiative Pro Berliner Neutralitätsgesetz und Michael Hammerbacher, Leiter DEVI e.V., Initiative Pro Berliner Neutralitätsgesetz, Dr. Götz Nordbruch von Ufuq und Pinar Cetin von der Deutschen Islam Akademie. Durch die professionelle Moderation von Dr. Christa Schäfer konnten wir eine gelungene Veranstaltung verbuchen, die noch gekrönt wurde von einem Bericht über das Streitgespräch von Hermann Zöllner.

Bericht des Streigesprächs

Rahmenbezug:

Die DeGeDe verstand das Streitgespräch als Beitrag zur Diskussion um das Berliner Neutralitätsgesetz, dessen Verfassungskonformität nach dem Urteil der 1.Senats des BVerfG 2015 (1)  und dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin (2) angezweifelt wird. Das BVerfG hat in seinen Urteilen zum Kruzifix in Schulen von 1995 (3), den Urteilen zum Kopftuchstreit 2003 (4) und 2015 das Konzept der staatliche Neutralität in einer auch religiös pluralistischen Gesellschaft weiterentwickelt; die gesellschaftlichen Akteure stehen danach vor der Aufgabe, die angesichts des gesellschaftliche Wandels geschärften verfassungsrechtlichen Grundsätze in Institutionen und Handlungspraxen konkret auszugestalten. Die Initiative „Pro Berliner Neutralitätsgesetz“ (5) plädiert für seinen Erhalt, weil es zum friedlichen Zusammenleben beitrage.  Im Kern ging es im Streitgespräch nun um die Frage, ob das Berliner Neutralitätsgesetz (6) zu einer inklusiven pluralistischen Gesellschaft beiträgt, was auch an den pädagogischen Handlungsfeldern, also Kindergarten, der Schule, der Jugendarbeit und der Universität diskutiert wurde, oder ob konzeptionell anders gedacht und neue Wege beschritten werden sollten.

Ablauf, Teilnehmer*innen, und Orientierungen für die Diskussion:

Das Streitgespräch wurde als Podiumsdiskussion mit breiter Plenumsdiskussion und abschließenden Statements der Podiumsdiskutanten strukturiert. Das Podium stellten je zwei Befürworter*innen und Kritiker*innen des Neutralitätsgesetzes:

Maruba Oba, Bildungsrefentin und Michael Hammerbacher, Leiter DEVI e.V., beide Mitglieder der Initiative Pro Berliner Neutralitätsgesetz; und als Kritiker*innen

Dr. Götz Nordbruch von Ufuq e.V. und Pinar Cetin von der neu gegründeten Deutschen Islam Akademie. Die Moderation übernahm Dr. Christa Schäfer, die für alle Diskutanten drei Orientierungen vorgab:

  • Bleiben Sie in der Wertschätzung
  • Sprechen Sie konstruktiv
  • Nutzen Sie die ICH – Form, d.h. sprechen Sie von sich.

 

Drei grundlegende Thesen und die Kritik:

Alle Diskussionsbeiträge lassen sich auf drei Thesen beziehen und werden hier so zusammengefasst dargestellt.

  • Das Berliner Neutralitätsgesetz  leistet einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung einer auch religiös pluralistischen Gesellschaft.
  • Der staatliche Erziehungsauftrag kann nur dann erfüllt werden, wenn die weltanschaulich-religiöse Neutralität und der Schutz der negativen Glaubensfreiheit lückenlos gesichert ist. Dies erfordert eine klare Trennung von Schule und Religion.
  • Da das Schüler-Pädagogen-Verhältnis kein gleichberechtigtes, sondern ein Abhängigkeitsverhältnis ist, müssen die Pädagog*innen auf demonstrative Symbole ihrer persönlichen Religiösität verzichten.

 

Zur ersten These: staatliche Neutralität in religiösen Fragen

Das Berliner Neutralitätsgesetz garantiere die staatliche Neutralität in religiösen Fragen, indem es u.a. religiös geprägte Symbole in staatlichen Institutionen verbiete. Dieses Verbot sei unabdingbar für den gesellschaftlichen Frieden in einer Stadt wie Berlin mit über 250 Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und mit einem Anteil von über 60 Prozent konfessionsloser Menschen an der Gesamtbevölkerung Berlins.

Die staatliche Neutralität in religiösen Fragen ist lang erkämpfter gesellschaftlicher Konsens und wurde auch in der Diskussion von niemandem in Frage gestellt. Aber hinterfragt wurde, ob staatliche Neutralität mit einem Verbot religiöser Symbole oder nicht vielmehr auch ganz anders ausgestaltet werden könne. Neutralität erscheine als Synonym für religionsfrei. Die Neutralität bezieht sich – dies sei ergänzend angemerkt – darauf, dass der Staat seine Gesetze und Verordnungen so begründen und rechtfertigen muss, dass sie von allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen als fair anerkannt werden können (7). Für „performative“ Religionen wie den Islam und die jüdische Religion kann ein solches Verbot eine unfaire Beschränkung darstellen. Gleichbehandlung kann dann faktisch Diskriminierung bedeuten.

Darüber hinaus wurde eingewendet, dass das Ziel des Gesetzes, zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beizutragen, möglicherweise durch andere Maßnahmen viel wirksamer verfolgt werden könnten:  Pluralistische Gesellschaften bedürften für ihren Zusammenhalt der institutionellen Repräsentanz der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, d.h. dass staatliche Institutionen sich also sichtbar für Minderheiten öffnen sollten.

Die staatliche Neutralität ist ein grundlegendes Prinzip zur Sicherung der positiven und negativen Religionsfreiheit, ihre Ausgestaltung kann man sich aber auch völlig anders vorstellen als dies im Berliner Neutralitätsgesetz gedacht wird.

 

Zur zweiten These: religionsfreie Schule

Der staatliche Erziehungsauftrag könne nur dann erfüllt werden, wenn die weltanschaulich-religiöse Neutralität und der Schutz der negativen Glaubensfreiheit garantiert sei. Aus dem in der ersten These dargestellten Verständnis staatlicher Neutralität folge, dass Pädagog*innen keine religiösen oder weltanschaulichen Symbole tragen dürften. Die Religion habe in staatlichen Schule keinen Platz.

Während über den Grundsatz Einigkeit bestand, wurde über die Konsequenzen in der Diskussion gestritten.

Aber zunächst wurde gefragt, ob das Kopftuch überhaupt ein religiöses Symbol sei. Es sei objektiv mehrdeutig. Es könne als religiöses Symbol, als Zeichen der Emanzipation, als Beitrag zur Identitätsfindung und aus vielen weiteren Gründen getragen werden. Es sei hinzugefügt, dass, wenn es als religiöses Symbol erlaubt würde,  eine Prüfung jedes Einzelfalls erforderlich wäre, mit der die Schulbehörden wohl überfordert wären(8).

Ist die Annahme  einer (religiös) neutralen Persönlichkeit, auf der im Neutralitätsgesetz die Garantie religiöser Neutralität beruht,  überhaupt realistisch?  Eine Lehrerpersönlichkeit könne nie neutral sein, Pädagogen brächten, wie versteckt auch immer, ihre ganze Person ein. Und: Sei eine neutrale Persönlichkeit des Pädagogen überhaupt wünschenswert?

Als eine mögliche Alternative zur Ausgestaltung der Neutralität wurde der Beutelsbacher Konsens (9) genannt, der in der Politischen Bildung entwickelt wurde, aber das dort formulierte Überwältigungsverbot müsse für jeden Unterricht gelten. Zur Erläuterung sei der entsprechende Satz zitiert: „Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils’ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Bildung und Indoktrination…“.

Es wurden noch weitere Argumente eingebracht: Hat nicht das Neutralitätsgesetz auch negative Folgen? Seine Ausgestaltung kollidiere mit dem Recht auf freie Berufswahl, so dass das Neutralitätsgesetz als Integrationshemmnis wirken könne. –  Und schließlich: Religion sei für viele Jugendlichen eine Ressource in ihrem Alltag; die Schule vergebe sich Chancen, die Persönlichkeitsbildung der Jugendlichen zu fördern, wenn sie Religion von der Schule fernhalte bzw. nur als Religionskunde in den Ethikunterricht einbeziehe.

Schüler*innen müssten lernen, auch mit religiöser Pluralität umzugehen. Dies sei neben dem Fachunterricht vor allem eine Gestaltungsaufgabe der Schulkultur; die alltäglichen Erfahrungen seien hierfür ein zentrales Lernfeld.

Das Berliner Neutralitätsgesetz hat also auch durchaus negative Folgen, indem vielfältige Lernmöglichkeiten zum Umgang mit religiöser Pluralität und Sinnfragen zumindest rechtlich ausgeschlossen werden. Es gibt einzelne Alternativen wie den Beutelsbacher Konsens; die folgende Diskussion zur dritten These vermittelt einen Eindruck, ob solche Alternativen ausreichen.

Zur dritten These: die Pädagog*innen – Schüler*innen -Beziehung

Da das Schüler*innen – Pädagog*innen – Verhältnis kein gleichberechtigtes, sondern ein Abhängigkeitsverhältnis sei, müssten die Pädagog*innen auf demonstrative Zeichen ihrer persönlichen Religiosität verzichten. Es wird von niemandem bestritten, dass häufig durch die Familie und das Umfeld Druck auf Mädchen ausgeübt wird, ein Kopftuch zu tragen. Eine Kopftuch tragende Pädagogin zeige den Mädchen und ihren Familien keine legitime alternative Handlungsmöglichkeit. Es gebe also keine mit Autorität ausgestattete Instanz in ihrem Umfeld, auf die die Mädchen sich berufen könnten, um dem familiären Druck etwas entgegen zu setzen und eine freie Entscheidung einzufordern. Mit der Ausbreitung fundamentalistischer Gruppen sei z.B. in Neukölln eine steigende Zahl von auch kleinen Mädchen zu beobachten, die Kopftuch trügen. Pädagog*innen seien dagegen machtlos.

Es wurde eingewandt, ob nicht die Vorbildfunktion der Pädagog*innen überschätzt würde. Beispiele aus verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern zeigten, dass Lehrende, wenn sie ihre persönlichen Positionen offen legten, von den Lernenden sehr genau auf ihre Unparteilichkeit in der Darstellung des jeweiligen Themas beobachtet und geprüft würden. Unabhängig von diesen Prozessen – das sei wieder ergänzt – ist es aber eine soziale Tatsache, dass die Pädagog*innen eine öffentliche Instanz darstellen, die im Beziehungsgeflecht Schüler*innen – Familie – Umfeld prinzipiell einen großen Einfluss hat. Aber ob das Berliner Neutralitätsgesetz dem Selbstbestimmungsrecht der Mädchen zu größerer Durchsetzung verhilft, bleibt eine offene Frage.

Vom Streitgespräch waren zwar keine Lösungen zu erwarten, aber es warf doch wichtige Fragen auf. Die Neutralität des Staates in religiösen Fragen kann auch im schulischen Bereich anders ausgestaltet werden als mit dem Verbot religiöser Symbole. Das Berliner Neutralitätsgesetz hat auch negative Folgen und es bestehen Zweifel, ob es seine Ziele erreicht. Über alternative Gestaltungsmöglichkeiten der Schule zum Umgang mit religiöser Pluralität, die das Recht auf positive und negative Religionsfreiheit für alle, Schüler*innen wie Pädagog*innen in der Lebenswelt verankern, sollte weiter nachgedacht werden. Vielleicht lohnt sich auch ein Blick auf die nach dem Kopftuchurteil von 2015 erfolgten überarbeiteten Regelungen anderer Bundesländer(10).

  • BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27.Januar 2018-04-27
    • 1 BvR 471/10-Rn.(1-31)
  • Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Az 14 Sa 1038/16
  • BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 16. Mai 1995
    • 1 BvR 1087/91 – Rn. (1-98)
  • BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 24. September 2003
    • 2 BvR 1436/02 – Rn.(1-138)
  • pro.neutralitaetsgesetz.de (Aufruf 26.04.18)
  • Berliner Neutralitätsgesetz: G.v. 27.01.2005 Berl GVBL. S.92
  • Forst, Rainer (2017): Ein Gerichtsurteil und viele Kulturen. In: Forst, Rainer: Normativität und Macht. Berlin, S. 151ff.
  • Czermak, Gerhard (2018): Zum Fortbestand des Berliner Neutralitätsgesetzes nach der 2. Kopftuchentscheidung des BVerfG von 2015, S.1

https:// weltanschauungsrecht.de/rechts…/staaytliche_neutralitaet (Aufruf 26.04.18)

(10) Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag(2017): Dokumentation – Zur Situation Kopftuch tragender Lehrerinnen in ausgewählten Bundesländern. Deutscher Bundestag – WD 8-3000-036/17