„Eine demokratische Schulkultur ist kein Luxus, sondern Demokratie in der Schule ist der Ernstfall, und sie muss im Zentrum der Aufgabe stehen, die Schule zu erfüllen hat.“ – so der Schirmherr des Preise Der Preis demokratische Schulentwicklung; Prof. Dr. Dr. hc. Wolfgang Edelstein, 2019

Wolfgang Edelstein war einer der Gründungsväter der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe e.V.) im Jahre 2005 und konzipierte Zusammen mit Peter Fauser das BLK-Programm: Demokratieleben 2003-2007

Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Edelstein

* Freiburg 15. Juni 1929

+ Berlin 29. Februar 2020

Warum Wolfgang Edelstein so sehr fehlt!
Jutta Allmendinger

aus: Tagesspiegel, Nr 24264 Sonntag den 28. Februar 2021

In diesen bildungspolitisch ernüchternden Monaten der Pandemie vermissen wir einen Menschen ganz besonders: Wolfgang Edelstein. Er war Vorbild für viele. Er war Vordenker einer inklusiven und demokratischen Bildung. Und er war vor allem ein Gelehrter mit dem Mut, Wissenschaft und politisches Handeln intensiv miteinander zu verschränken.

 

Dieser Anspruch durchzog Wolfgang Edelsteins gesamtes Wirken. In der Schule: Von 1954 bis 1962 war er erst Lehrer, dann Studienleiter an der Odenwaldschule. Die späteren Missstände an der Schule schockierten ihn zutiefst. Gleichwohl bezeichnete er diese frühen Jahre als die wichtigste Lehrzeit seines Lebens. In der Politikberatung: Von 1966 bis 1984 war Wolfgang Chefberater des isländischen Kultusministeriums. Das Land prägte ihn stark, seitdem es ihn und seine Familie nach der Flucht aus Nazideutschland aufgenommen hatte. Und in der Wissenschaft: Ab 1963 arbeitete er am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, dessen Direktor er 1981 wurde.

 

Ein „Entweder-Oder“ war ihm zeitlebens fremd, von einem Spagat zwischen Wissen und Praxis sprach er nie. Klar – international ausgerichtete, von Kolleginnen und Kollegen begutachtete und für die Scientific Community geschriebene Artikel und Bücher waren ihm wichtig, und er verfasste davon viele. Aber das Wirken in die Gesellschaft hinein, in die Schulen, für die Schülerinnen und Schüler, und damit für die Gesellschaft von morgen, war ihm ebenso wichtig. Selbstverständlichkeit und wissenschaftlicher Auftrag. Ruf und Berufung. Gerüttelt hat er an althergebrachten Maßstäben; viele von uns hat er auch wachgerüttelt: „Habt Mut. Denkt out of the box. Zählt nicht nur Zitationen, sie ändern die Gesellschaft nicht.“

 

Vor einem Jahr ist Wolfgang Edelstein gestorben. Ruhig und mit sich im Reinen. Leise fast und bescheiden. So wie er sein ganzes Leben über war. Ein Menschenfreund, kein larmoyanter Leisetreter, kein flamboyanter Marktschreier. Er wurde 90 Jahre alt. Ich vermisse ihn. Wie wohl hätte er diese Monate vermessen? Wie hätte er sie kommentiert? Was hätte ihn empört?

 

Ich kann ihn nicht mehr fragen. Seine Ideen, seine Ansätze und sein Denken leben aber fort, sie sind relevanter denn je. Und ich habe das Glück, sie in meiner unmittelbaren Nähe zu wissen. Sein Sohn Benjamin arbeitet in meiner Forschungsgruppe. Gestern habe ich ihm geschrieben: „Was wohl hätte Wolfgang gesagt in und zu diesen Tagen?“ Seine Antwort kam postwendend: „Ganz sicher hätte es ihn empört, dass die Bildungsverwaltungen nichts Ernsthaftes unternommen haben, um die besondere Härte abzufedern, mit der die Schulschließungen arme und sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche treffen. Allerdings hätte es ihn auch nicht überrascht, bestätigt es doch nur, was er immer schon kritisierte, nämlich dass in der deutschen Schule Bedürfnisgerechtigkeit noch immer ein Fremdwort ist.“

 

Ich sehe das wie Benjamin: Seinen Vater hätte eine weitere Sorge umgetrieben. In der Pandemie wird fast ausschließlich auf die fachlichen Defizite durch die Schulschließungen geblickt. Dabei bleibt auch alles andere, was die Schule der jungen Generation für ihren Lebensweg mitgibt, auf der Strecke. Denken wir an das Miteinander in der Klassengemeinschaft, an das Austesten der eigenen Talente mit anderen, an das Erproben von Verantwortung, an das Erlernen demokratischer Regeln. Und hier berühren wir einen Kern des Edelsteinschen Denkens: Für ihn waren eine demokratische Schule, eine Schule der Demokratie kein Luxus. Keine Nebenaufgabe, sondern das Kerngeschäft des Unterrichts.

 

In diesen Tagen gibt es keinen, der uns diese wichtigen Worte in dieser Klarheit zuruft. Wolfgang Edelsteins Stimme fehlt.

 

Jutta Allmendinger

Anlässlich seines Todes veröffentlichen wir als Mahnung und im Gedenken seinen Aufruf für die Demokratie und gegen Rassismus, Antisemitismus und Demokratie- und Menschenfeindlichkeit, den er als seine „vor“letzte öffentliche Rede auf der Festveranstaltung „Die Verantwortung der Bildung für die Demokratie“ am 21. November 2014 anlässlich seines 85. Geburtstages hielt. Es spricht für seinen Weitblick, seine analytische Schärfe und vor allem seine Empathie, dass seine Rede in diesen Tagen wohl so aktuell ist wie noch nie.

Mein ganzes Leben habe ich als Außenseiter geführt, in der Dialektik zwischen Fremdheit und Einwurzelung, zwischen Entfremdung und Zugehörigkeit. Heute weiß ich: Ich gehöre dazu – auch ohne Wurzeln. Ja, man kann nach Hause kommen, auch in einem fremden Land; in einen Hafen, der dich aufnimmt; in ein System der Mitbestimmung und Beteiligung, in die Zugehörigkeit zu einer Diskursgemeinschaft.“

Letzte öffentliche Rede bei der Tagung anlässlich des 85. Geburtstags von Wolfgang Edelstein am 21. und 22. November 2014 in Berlin.